Sophia Pietryga: Einführung – Die Dialektik der Liebe in Zeiten des Hasses 2018-05-14T15:12:52+00:00

Sophia Pietryga

Die Dialektik der Liebe
in Zeiten des Hasses

„Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“, sangen Die Ärzte 1993 und lieferten die Lösung gleich mit: Streicheleinheiten fehlten, die Eltern und die Freundin müssten nur öfter Zeit haben, um dem rechten Gedankengut entgegenzuwirken. Das durch das Neue Testament in unseren Wertekanon transportierte Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ macht also auch vor unseren politischen Feinden nicht halt. Doch das Credo, selbst einem faschistischen Weltbild mit Liebe zu begegnen, scheint schwer umsetzbar und fehl am Platz.

BEWEGUNG LIEBE setzt hier ein. Sie erkennt: Faschismus ist die Abwesenheit von Liebe. Sie stellt der Kälte der Rechten Feinheit, Ästhetik und Sensibilität entgegen, macht Propaganda, nicht für eine politische Haltung, sondern für ein Gefühl, und gibt offen zu: Es gibt keine einfachen Lösungen.

Sebastian Jung stellt als Künstler und Kopf hinter BEWEGUNG LIEBE einen achtköpfigen interdisziplinären Thinktank zusammen, der als Abbild der pluralistischen Gesellschaft das Thema Populismus und Liebe aus den unterschiedlichen Perspektiven der Autor*innen beleuchtet, die sich in einem Spektrum zwischen Geisteswissenschaft und Popkultur bewegen. Die personelle Wahl ist programmatisch: Vom Punker Wolfgang „Wölfi“ Wendland bis hin zur britischen Theoretikerin Nina Power haben ihre Themen Sebastian Jung in seinem Leben und somit in seiner künstlerischen Haltung beeinflusst. Der Thinktank als diskursives Moment wird dadurch zum gleichberechtigten Medium Jungs: Er entwirft einen sozialen Raum, der zulässt, dass Menschen in ihrer geistigen Haltung zusammenkommen, ohne dass von außen eingegriffen oder moderiert wird. Jung bedient sich hier einer zeitgenössischen Erweiterung des klassischen Kunstbegriffs, indem er die soziale Komponente als elementares Thema seiner künstlerischen Praxis einführt.

Jung setzt dem Thinktank ein Manifest gegenüber, das als Soundinstallation inszeniert wird: „Alle einfachen Erklärungen sind aufgehoben. Die Liebe hebt sie alle auf.“ Auch das Manifest ist ein sich selbst widersprechendes System, denn dem Aufheben einfacher Erklärungen werden bewusst einfache Aussagen nachgestellt. Die Widersprüchlichkeit ist der Komplexität der Sache geschuldet und schwer auszuhalten, denn gerade wenn es um ein ätherisches Gefühl geht, können zwei auf den ersten Blick unvereinbare Aussagen richtig sein und nebeneinander stehen. Der anschließende Dialog zweier vormals Liebender zieht uns auf voyeuristische Weise in ein intimes Gespräch. Verhandelt wird die große „Sache“ genau wie die diffuse Gefühlslage der Protagonist*innen. Das Nebeneinanderstellen individueller profaner Gefühle – Du schmatzt beim Essen – und großer politischer Gesten – Wir werden ihre Köpfe sprengen von der Brust her – ist kaum ertragbar, zeigt aber die Menschlichkeit der Situation und lässt uns uns selbst in ihr wiedererkennen.

Dem Textkorpus der BEWEGUNG LIEBE, Thinktank, Manifest und Dialog folgen die bildnerischen Anteile Sebastian Jungs. Drei Serien behandeln mit unterschiedlichen medialen Herangehensweisen die Thematik: Zunächst werden wir hineingeworfen in ein Konvolut aus 108 Zeichnungen, die alle an einem Tag auf der Erotikmesse „Venus“ in Berlin entstanden sind. Sebastian Jung nimmt uns mit in eine vermeintlich fremde Welt, in der wir Menschen begegnen: solchen, die die Messe besuchen, manchen, die dort arbeiten und einigen, bei denen die Unterscheidung nicht klar zu treffen ist, denn alle machen mit. Die Dargestellten werden nicht verurteilt, keine einfache Gesellschaftskritik aufgetan, nach der die schlechten Männer (als Messebesucher) die armen Frauen (als Sexarbeiterinnen) ausbeuten – oder anders herum. Es wird vielmehr ein Bereich gezeigt, der alle Teile von Gesellschaft in sich trägt: Einsamkeit, Traurigkeit, Banalitäten, aber auch lustige Momente; Jung nimmt uns dabei nicht aus, grenzt nicht ab, sondern zeigt, dass das Unreflektierte, Bedürfnisorientierte das Menschliche ist. Er nimmt, in Tradition der Maler der Neuen Sachlichkeit, die Rolle des Künstlers im Milieu ein, charakterisiert als Beobachter schnell und skizzenhaft pointiert, indem er Menschen und Situationen auf ihre prägenden Attribute reduziert.

Das Themengebiet „Gesellschaft“ wird durch eine Serie von Handyfotos erweitert: Zwei als Paar zueinander gestellten Fotos, die Alltagsbeobachtungen des Künstlers zeigen, wird jeweils ein kurzer Text Jungs zugeordnet. Die Reihung der Paare erfolgt dualistisch und dialektisch: assoziativ aufgrund formal-ästhetischer Ähnlichkeiten oder inhaltlicher Überschneidungen. Die Themen stammen aus allen Breitengraden der Gesellschaft: von Geschlechterrollen über Güterverteilung geht es zu Tide-Pod-Challenge und Putins Labrador. In den Texten werden diese Sujets pointiert zusammengeführt. Indem Jung fragt: „Welcher Typ bist Du? Eher so der Hitler-Typ oder der Stalin-Typ?“, zieht er uns in die gesellschaftlichen Themen hinein, holt uns aus der passiven Rolle der Betrachter*innen und bringt uns dazu, Stellung zu beziehen.

Die „Kunstblumen“ bringen Jungs gesellschaftliche Geste schließlich zurück ins Private: Er geht von der Blume aus, als Motiv und Symbol der Kunstgeschichte sowie als stereotyp-ges-trige Geste, entlarvt aber diese Bedeutungsebenen, indem er Blumen aus Plastik, gefertigt aus kaputten Kunstblumen, zum Material seiner Arbeit macht. Er inszeniert diese nüchtern, hebt dadurch die sinnliche Haptik im Kontrast zum trashigen Material hervor. Im zweiten Schritt zeichnet er sie: Der Eindruck der Künstlichkeit geht endgültig verloren, durch die Zeichnung individualisiert sich der Gegenstand Blume zum eigenständigen Stillleben. Der Paarung aus Foto und Zeichnung ist wiederum jeweils ein Textfragment zugeordnet: Es sind Beschreibungen von Szenen, die aufkeimende Liebesbeziehungen andeuten, die aber abrupt scheitern. In Wechselwirkung mit dem Motiv Blume ist dieses Scheitern kein brutaler Schmerz: Es macht die Vergänglichkeit und Zartheit der Liebe deutlich.

Sebastian Jung zeichnet in BEWEGUNG LIEBE eine Dialektik der Liebe: Er spannt den Bogen vom Zusammenbringen der Persönlichkeiten des Thinktanks hin zur Erotikmesse als gesellschaftlichem Sittenbild und endet bei Plastikblumen als Symbol für Sinnlichkeit und Scheitern. Das holistische Nebeneinander umkreist das Sujet und macht es ästhetisch und emotional begreifbar, indem Konzept und formal-ästhetische Ausformulierung gleichberechtigt zusammenkommen.

Der scheinbaren Unmöglichkeit des Liebens politischer Feinde begegnet BEWEGUNG LIEBE proaktiv: Nicht das Lieben des anderen wird in den Vordergrund gestellt, sondern die kontinuierliche Selbstbefragung, das Aufarbeiten und die Reflexion innerer Konflikte. Durch die innere Stärkung der aufgeklärten Gesellschaft können wir so einen Populismus der Liebe entwickeln, der sich gegen den Hass stellt.

Sophia Pietryga ist Kunsthistorikerin