Marcel Klett: Vorwort 2018-05-14T15:12:28+00:00

Marcel Klett

Vorwort

Deutschland, Europa, „der Westen“ im 21. Jahrhundert. Es wird über „Unübersichtlichkeit“ geklagt. Die sozialen Bindekräfte der Gesellschaften lösen sich auf – stattdessen: Fragmentarisierung. Die angeblich unabhängigen Individuen kommunizieren in geschlossenen Gruppen mit Gleichgesinnten. Communitys schließen sich voneinander ab. Die offene Gesellschaft ist nicht inklusiv, sondern seriell. Wo ist die große Idee, die alle mit allem verbinden könnte? Nirgends. In diesem entideologisierten Wasteland haben Neokonservative, Neonationalist*innen und Identitäre ein leichtes Spiel, solange ihre Gegner*innen in ihren Echokammern verharren und Selbstgespräche führen. Denn sie adressieren das allgemeine Unbehagen und können den Mitgliedern einer autochthonen Mehrheitsgesellschaft Zusammenhalt, Solidarität und Sinn versprechen. Dass die Übrigen keinen Platz in dieser alten Welt haben, ist Konzept und Motor. Aggressive Abgrenzung und Hass gegen „das Andere“ bzw. „die/den Andere*n“ ersetzen dann die vergessenen sozialen Ideale.

BEWEGUNG LIEBE versucht eine Antwort und will Kommunikation zwischen verschiedenen distinkten Lebensbereichen ermöglichen. Bildende Kunst, darstellende Kunst, Literatur, Pop-kultur, Wissenschaft, Politik. Sechs gesellschaftliche Bereiche mit eigenen Regeln, Kommunikationsformen, Argumentationstechniken und Adressat*innen. Sechs gesellschaftliche Bereiche, die selten miteinander sprechen, sondern meist nur übereinander urteilen und nebeneinander existieren. Das Ziel ist Kollaboration. Das Ziel ist es, eine Sprache zu finden, die die eigene Echokammer wieder verlassen kann.

BEWEGUNG LIEBE ist ein Experiment. In der Einleitung zu seiner „Ästhetischen Theorie“ hält Theodor W. Adorno fest: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“ Diese Einschätzung lässt sich in einer gesellschaftlichen Situation wiederholen, in der künstlerische Äußerungen in der Regel als Kommunikation von Spezialist*innen mit Spezialist*innen gelesen werden müssen. BEWEGUNG LIEBE will diese verlorene Selbstverständlichkeit für einen flüchtigen Augenblick zurückholen.

Marcel Klett ist kaufmännischer Geschäftsführer
und Teil der künstlerischen Leitung am Theaterhaus Jena